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Ein Interview mit Pastoraltheologe Sellmann* über kirchliche Innovationen. Sinkende Kirchenbesucherzahlen und Priestermangel schüchtern den Pastoraltheologen Matthias Sellmann nicht ein. Er wirbt für ein radikales Nachdenken über kirchliche Innovationen. Der Zölibat spielt dabei eine besondere Rolle.

Hier einige Ausschnitte. Zum vollständigen Interview**:

Frage: ... es gehen nur 10 Prozent der Gläubigen sonntags in die Kirche…

Sellmann: Ich kann auch sagen: ... es gehen extrem viele Deutsche am Sonntag zum Gottesdienst. Fast 2,5 Millionen Menschen sind mindestens einmal im Monat dort. Das schafft kein Theater oder keine Mannschaft in der Fußball-Bundesliga. Wir müssen uns aber von dem Denken verabschieden, dass die Kirche einmal in der Woche den Anspruch auf eine Stunde Lebenszeit der Gläubigen hätte. Diese Idee ist – übrigens auch aus theologischen Gründen – obsolet.

Frage: Wie meinen Sie das?

Sellmann: Es geht um die freiheitliche Selbstbestimmung des Einzelnen. Sie ist das Grundcredo einer modernen Gesellschaft. Und damit tut sich die Kirche von den Gemeinden bis zu den Bischöfen hin noch immer recht schwer. Seit dem 19. und 20. Jahrhundert hat sich ein stark verkirchlichtes Christentum zementiert, das enorme Erwartungen hinsichtlich Zugehörigkeit, Bindung, Beobachtung, Bewertung und auch Kontrolle kultiviert hat. Früher hat die Kirche ja sogar vor der Freiheit gewarnt. Heute sagt der Einzelne: Was zwischen mir und meinem Gott oder mir und meiner Transzendenz oder meinem "Energiefeld" oder wie auch immer, passiert, das geht nur mich etwas an. Diese religiöse Emanzipation erinnert ein wenig an die sexuelle Revolution der 1960er Jahre. Darin sehe ich eine große Herausforderung, aber auch die Chance der Kirche: weg von der Kontrollmacht hin zur Befreiung zur Lebens- und Gesellschaftsqualität.

Frage: ... Ist der radikale Freiheitsgedanke damit kompatibel?

Sellmann: Ich hoffe doch sehr! Unser ganzes Gottesbild gerät doch sehr in intellektuelle Widersprüche, wenn wir nicht Freiheit als DNA des Christseins herausarbeiten können. Wie sollte man den jüdisch-christlichen Gott behaupten, der Anerkennung, Schöpfung und Kreativität ist, ohne die Freiheit und damit auch eine freiheitliche Beziehung zwischen ihm und den Menschen mitzudenken? Ich denke auch, dass sich etwa das Kirchenrecht als eine Freiheitsordnung lesen lassen muss. Die Existenz eines rechtlichen, institutionellen oder auch liturgischen Rahmens bedeutet ja auch erst einmal keine Freiheitsfeindlichkeit. Allerdings kennen wir es bisher nur so, dass Autorität, Bindung, wechselseitige Kontrolle und Sanktionen eine sehr große Rolle spielen. Und das bricht uns jetzt nach und nach weg.

Frage: Trotz allem steht die Kirche vor einem Problem. ... es gibt in Deutschland immer weniger Menschen, die die Eucharistie empfangen und weniger Priester die sie spenden. Müssen wir Kirche und Christsein ganz radikal neu denken?

Sellmann: Ja, darauf sollten wir uns einstellen. Und das macht doch auch den Adel unserer pastoralen Gegenwart aus: dass wir in einer Umbruchszeit leben und sie gestalten können. Nachfolgen heißt heute: Vorangehen. Und Christsein heißt als Lebensentwurf: sich so geben, dass auch Andere geben wollen. Das ist unmittelbar eucharistisch. Wir kommen aus einer Anspruchshaltung volkskirchlicher Zeiten, die aufgrund eines Überangebotes unter anderem auch zu einer fast monokulturellen Eucharistiefrömmigkeit und -praxis geführt hat. Man kann die Eucharistie aber auch ganz anders denken: etwa als Lebens- und nicht immer sofort als sakramentales Empfangsmodell. Wie lebe ich eucharistisch? Wie werde ich selbst zur Gabe, wie lebe ich Gabenbereitung in meiner Existenz, und wie wird auf diese Art und Weise die "Welt" in ihr Besseres verwandelt? Wenn wir als Glaubende als Gebende erkennbar werden, werden sich auch die Rollen von Priestern und Laien verändern. Der Priester ist dann wieder mehr als ein "Eucharistiespender" am Wochenende. Ich bin davon überzeugt, dass auch wieder mehr junge Leute Priester werden wollen, wenn wir Eucharistie als Identitäts- und Verwandlungsfeier und nicht nur als Sonntagspflicht begehen. Ein priesterliches Leben an sich ist ja eine sehr attraktive Existenzform.

Frage: Auch mit Zölibat?

Sellmann: Auch mit Zölibat. Der Zölibat ist schließlich eine der ältesten und in vielen Religionen praktizierte Lebensform. Auch für ihn gilt wie für alle religiösen Inhalte, dass er je glaubwürdiger wirkt, je freiheitlicher er gelebt wird. Es gibt ja auch viele Künstler, Politiker, Unternehmer, Mediziner und andere bewusste Singles, die auf eine exklusive Liebesbeziehung verzichten, um universal für Andere verfügbar zu sein.

Frage: Wie geht es nun weiter mit der Kirche?

Sellmann: Eine große Frage! Ich denke schon, dass Vieles zu Ende geht, weil es nicht mehr vereinbar ist mit einer freiheitlichen religiösen Selbstbestimmung. Und ich wiederhole: Wenn das der Grund ist, geht damit keine Tradition verloren, die für uns als Kirche konstitutiv wäre. Dieser Übergang kann jedoch friedlich passieren und als Herausforderung erlebt werden oder mit Verbitterung und Ressentiments aufgeladen sein. Die Frage ist, ob wir der Zukunft eine Chance geben oder ob man sie nur als Karikatur dessen ansehen kann, was man selber gewohnt war...

**Zum vollständigen Interview bei katholisch.de

*Prof. Dr. Matthias Sellmann (*1966), Gründer und Leiter des Lehrstuhls für Pastoraltheologie an der Ruhr-Universität in Bochum

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